Grund zur Panik?
Die mit der Staatsverschuldung verbundenen Risiken haben sich während der Pandemie enorm erhöht, da die Regierungen bestrebt sind, die am meisten betroffenen Unternehmen zu unterstützen. Die Unternehmen haben sich verschuldet, um genügend Liquidität zum Überleben zu sichern, und die Haushalte haben ihre Verschuldung, gezwungen durch den wirtschaftlichen Abschwung, erhöht. Das Jahr 2020 könnte als historisch angesehen werden, nicht nur wegen der noch nie dagewesenen Lockdowns, sondern auch wegen der noch nie dagewesenen Verschuldung. Der Verschuldungsgrad stieg bei allen Gruppen von Wirtschaftssubjekten. Am zaghaftesten war der Anstieg bei den privaten Haushalten, während die aggressivste Dynamik erwartungsgemäss auf der Ebene der Nationalstaaten zu beobachten war (Abb.1).
Abb.1: Verschuldung im Verhältnis zum BIP (in %) während 2017-2020 und ihre Veränderung während der Pandemie
Quelle: Hérens Quality AM, Bank für Internationalen Zahlungsausgleich
Während die aggregierte Staatsverschuldung im Verhältnis zum BIP in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften um 20% anstieg, lag der Anstieg in einigen Ländern deutlich über dieser Schwelle (Abb. 2). Besonders kritisch sieht es für die Länder aus, in denen die Schuldenquote bereits auf einem hohen Niveau liegt, wie z.B. Kanada, die USA oder das Vereinigte Königreich.
Abb.2: Staatsverschuldung Expansion Champions 2020, Staatsverschuldung zum BIP (in %) und deren Veränderung
Quelle: Hérens Quality AM, Bank für Internationalen Zahlungsausgleich
Lassen Sie uns diskutieren, ob die Situation um die riesigen Schuldenberge tatsächlich dramatisch werden wird und was diese erhebliche Verschuldung für die Investoren bedeutet.
Anderen Teil der Bilanz berücksichtigen
Bei der Standard-Finanzanalyse eines Unternehmens ist es üblich, dass Investoren die finanzielle Stabilität des Unternehmens anhand der Verschuldungskennzahlen und des Nettovermögens im Verhältnis zur Höhe der Aktiva beurteilen. Ein Vergleich der Verschuldung mit den generierten Erträgen würde im klassischen analytischen Rahmen eher seltsam aussehen. Aber genau das wird bei der Bewertung des Staatsrisikos getan, wenn die Schulden mit der Bruttowertschöpfung oder dem BIP eines Landes verglichen werden. Setzt man die Höhe der Schulden eines Landes in den Kontext dessen, was das Land besitzt, kann das Paradigma der stereotypen Meinung über das langfristige Risikoprofil des Landes völlig verändert werden. Das Land kann beträchtliche Schulden im Verhältnis zum BIP haben, aber wenn der Wert der ihm zur Verfügung stehenden Vermögenswerte die Verbindlichkeiten leicht abdecken kann, führt dies zu einem positiven Endsaldo (Abb.3). Schauen wir uns zum Beispiel Japan, das für seine Schuldenposition (Schulden im Verhältnis zum BIP von über 230 %) bekannt ist, aus der Perspektive des Nettovermögens an. Japan sieht nicht so riskant aus wie Grossbritannien, obwohl letzteres weniger als die Hälfte der Schulden im Verhältnis zum BIP hat wie Japan.
Zudem wären Sie überrascht zu sehen, dass die G7-Länder zu den risikoreichsten Ländern auf der Vermögensskala gehören, während kleinere und sich entwickelnde Länder wie Kasachstan, Korea und die Tschechische Republik dank der relativ grossen Vermögensbasis, über die sie verfügen, viel solider aussehen als nach den üblichen Kriterien.1
Abb.3: Länder-Nettovermögen in % des BIP
Quelle: IWF, Swiss Re Institute
Die Betrachtung der Position des nationalen Nettovermögens, die nicht nur die geliehenen Mittel, sondern auch die eigenen Vermögenswerte wie finanzielle Vermögenswerte, natürliche Ressourcen und andere nicht-finanzielle Vermögenswerte berücksichtigt, würde Investoren einen besseren Einblick in die wahre fiskalische Kapazität und Widerstandsfähigkeit des Landes geben. 2
Andere zu berücksichtigende Faktoren
Es ist eine ziemlich begrenzte Sichtweise, sich nur auf die nackte Schuldenzahl zu konzentrieren, ohne andere Faktoren zu berücksichtigen, die die Wahrnehmung der realen Situation in Bezug auf die Risikofähigkeit der Staaten völlig verändern könnten. Abgesehen vom Nettovermögen, das ein wirklich wichtiger Aspekt ist, könnte man auch das Pro-Kopf-Niveau betrachten: zum Beispiel die Verschuldung pro Kopf oder noch besser die Nettoverschuldung pro Kopf, die einen gegenläufigen Trend zur wachsenden Verschuldung im Verhältnis zum BIP aufweisen könnte. Wenn man weiss, dass die Zunahme der Bevölkerung – und damit der Erwerbsbevölkerung – der Haupttreiber des BIP-Wachstums ist, wird dieser Faktor die Bewertung der finanziellen Widerstandsfähigkeit eines Landes positiv beeinflussen.
Ausserdem dürfen wir den Faktor Inflation nicht ausser Acht lassen, der tendenziell den Kreditnehmern zugute kommt. Obwohl sich die Inflation derzeit auf einem sehr niedrigen Niveau befindet, beobachten die Finanzmärkte immer noch sehr nervös ihren möglichen Aufwärtstrend. So würde die riesige Verschuldung in einem inflationären Umfeld auch nicht sehr beängstigend aussehen, vor allem, wenn es sich hauptsächlich um inländische Schulden handelt.
Die Berücksichtigung dieser Nuancen rund um das Thema Schulden ist wichtig, um herauszufinden, wie dramatisch die Realität wirklich ist. Das Haupthindernis bei der Anwendung dieser Kennziffern ist jedoch, dass sie nicht ohne weiteres in den statistischen Datenbanken verfügbar sind und man zusätzlichen Aufwand betreiben muss, um sie zu berechnen und in das Risikobewertungsmodell zu integrieren.
Makrorisiko-Implikationen für Investoren
Es ist richtig, die globale Verschuldung hat während der Pandemie erheblich zugenommen und könnte sich negativ auf die Ratings der Staaten auswirken, aber wir glauben, dass es für viele Länder nicht so schlimm ist, wie es scheinen mag, wenn man tief in die Nuancen der Staatsverschuldung eintaucht.
Die Stabilität des Staates hat einen erheblichen Einfluss auf dessen Attraktivität und wird von den Kapitalmärkten genau beobachtet, was sich auf den Zugang zu Kapital auswirkt. Es ist zwar üblich, das Staatsrisiko anhand des Verschuldungsgrads im Verhältnis zum BIP zu beurteilen, ein objektiveres Bild erhält man jedoch, wenn man es aus der Perspektive des Nettovermögens beurteilt und dabei andere wichtige Aspekte nicht vergisst. Der Schuldenstand ist wichtig, aber eine noch wichtigere Kennzahl ist das reale BIP-Wachstum als Indikation für die globale Wettbewerbsfähigkeit eines Landes und seine Fähigkeit, die Wirtschaft zu entwickeln und auszubauen.
Referenzen:
- Yousefi, S.R. (2019). Public Sector Balance Sheet Strength and the Macro Economy
- P., Weckherlin, Ph.(2020). Wealth of nations: why it matters for policy makers and investors